“Wir sind hier!” – F. v. Schirachs “Jeder Mensch”

Eine Rezension zu Ferdinand von Schirachs “Jeder Mensch” – von Karsten Gröger.


Ferdinand von Schirach hat ein neues Buch geschrieben. Nun, besser gesagt, ein Büchlein – denn das Werk mit dem gewohnt schlichten, aber gleichwohl bedeutungsschwangeren Titel “Jeder Mensch” umfasst nur gut 30 Seiten. Es ist kein Roman, keine Kurzgeschichte und auch keine Sammlung solcher. Nein, dieses Mal hat Ferdinand von Schirach etwas ganz Eigenes geschaffen. Kurz gesagt: Er erfindet – und fordert – nichts weniger als sechs neue Menschenrechte im Range europäischen Rechts. Und doch ist “Jeder Mensch” kein juristisches Lehrbuch, keine staatsrechtliche Fachschrift und auch kein wirklich politisches Pamphlet. Ferdinand von Schirach schlägt mit großen Worten den Bogen von der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 über die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 in Frankreich und gelangt schließlich in die Gegenwart der Europäischen Union. Auf diese Weise missversteht – und schmälert – er nicht nur die herausragende Bedeutung zweier der wichtigsten staatsphilosophischen Papiere der Menschheit, er hebt die Europäische Union gleichzeitig in einen Rang, der ihr nicht zukommt und auch niemals zukommen darf.

“Jeder Mensch ist frei und gleich an Rechten geboren…”

Als der französische Generalmajor Marie-Joseph Mortier, Marquis de Lafayette, im Jahre 1789 die von ihm verfasste Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in die französische Nationalversammlung einbrachte, wusste er wohl noch nicht, dass kurze Zeit später die Französische Revolution Robespierres Schreckensherrschaft zur Folge haben würde.

So hatte Lafayette doch aufgeschrieben:

“… damit diese Erklärung allen Mitgliedern der Gesellschaft beständig vor Augen ist und sie unablässig an ihre Rechte und Pflichten erinnert […].

Jeder Mensch ist frei und gleich an Rechten geboren und bleibt es […]

Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung.”

Nachdem der Verfasser zwei Jahre später beschuldigt wurde, dem französischen König zur Flucht verholfen zu haben und ihm im Frankreich von Robbespierres blutigem Guillotinenregime der Tod drohte, erinnerte er sich sicherlich an seine Zeit in den noch jungen Vereinigten Staaten von Amerika. Dort hatte Lafayette gemeinsam mit George Washington – dem späteren ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten – im Unabhängigkeitskrieg gegen England gekämpft.

Ausgemacht statt selbstverständlich

Auch dort hatten die damals dreizehn britischen Kolonien ein Jahr zuvor – 1776 – ein bedeutendes politisches Papier hervorgebracht: Die Declaration of Independence – die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung.

Dort heißt es:

“We hold these truths to be self-evident: that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable rights, that among these are Life, Liberty and the Pursuit of Happiness.”

Ferdinand v. Schirach übersetzt diesen wohl berühmtesten und wortgewaltigsten Auszug der Unabhängigkeitserklärung leider falsch. Er meint, diese “Wahrheiten” – nämlich die Ausstattung jedes Menschen mit bestimmten unveräußerlichen Rechten – seien “selbstverständlich”.

Unter Zuhilfenahme des damaligen korrekten Verständnisses der Englischen Sprache muss es vielmehr heißen:

“Wir erachten die folgenden Wahrheiten als ausgemacht [‘aus sich selbst heraus klar’, sich selbst genügsam’, ‘instrinsisch belegt’, ‘keines äußeren Beweises bedürftig’, ‘gottgegeben’]: Dass alle Menschen gleich [an Rechten] geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen [‘nicht verlierbaren’, ‘unverfügbaren’, ‘unverletzlichen’, ‘unantastbaren’, ‘überpositiven’] Rechten ausgestattet sind; dass zu diesen Rechten Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören…”.

Die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung hatten also erkannt, dass die genannten grundlegenden Individualrechte eben gerade nicht selbstverständlich sind. Denn Selbstverständlichkeiten müssen nicht niedergeschrieben, für Selbstverständlichkeiten muss kein Krieg gegen England geführt werden.

Alles nur Utopie?

Ferdinand von Schirach schlägt den Bogen zurück zu Lafayette. Er beschreibt in pathetischen Worten eine Szene aus dem Ersten Weltkrieg – als eine amerikanischen Truppe, die Frankreich zur Hilfe eilte, unter Führung von Charles Stanton durch Paris marschierte, am Grab von Lafayette innehielt und mit den Worten salutierte: “Lafayette, wir sind hier!”.

Von Schirach bemüht hier in gewisser Weise Churchills Gedanke, der 1940 im Britischen Unterhaus die Hoffnung äußerte, dass – falls dem “Alten Reich” die Abwehr des Faschismus’ nicht gelinge -, es darauf hoffen dürfe, dass die “Neue Welt” zur Befreiung der alten herbeieile.

Und dennoch: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte sowie die Unabhängigkeitserklärung seien Utopien gewesen. Ihnen seien eben gerade keine Staatsordnungen gefolgt, die die darin niedergeschriebenen Grundsätze in die Tat umsetzten. Vielmehr haben in Frankreich Robespierres Guillotine und in Amerika Sklavenhandel und die Unterdrückung der Schwarzen geherrscht.

Es verbleibt bei von Schirach gewissermaßen ein fader Beigeschmack. Er schafft es – in der tatsächlich ihm eigenen Art und Weise und nicht ohne sich zuvor in die beschriebenen pathetischen Höhen aufzuschwingen -, zwei der großartigsten weltgeschichtlichen Papiere gleichsam, aber auch nicht vollständig, an der Realität scheitern zu lassen. Ein eigenartiges Gefühl.

Zeit für eine neue Utopie?

Und doch – von Schirach meint, es sei an der Zeit für eine “neue Utopie”, für neue Grundrechte, für neue Menschenrechte. Modernere. Zeitgemäßere. Doch gleichwohl nicht “jeder Mensch”, sondern freilich wohl nur – so sagt zumindest die Präambel – “die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union”. Diese betrachteten nämlich die nachfolgenden Grundrechte als – Achtung! – “selbstverständlich”:

  1. Jeder Mensch habe das Recht auf Umweltschutz.
  2. Jeder Mensch habe das Recht auf Selbstbestimmung im Internet.
  3. Jeder Mensch habe das Recht, dass künstliche Intelligenzen keine Entscheidungen für ihn treffen.
  4. Jeder Mensch habe das Recht auf Wahrheit.
  5. Jeder Mensch habe das Recht auf Einhaltung der Menschenrechte im Wirtschaftsleben.
  6. Jeder Mensch könne systematische Verletzungen dieser Rechte vor den Europäischen Gerichten geltend machen.

Jeder Mensch sollte besorgt sein

Merken Sie etwas? Geht es Ihnen auch so? Das Vorgenannte – freilich vereinfachte und zusammengefasste – wirkt im Gegensatz zu den Papieren, mit denen von Schirach seine Vorschläge vergleicht, verloren, profan, geradezu trivial. Vom Pathos der Gründerväter Amerikas, von der sprachlichen Brillanz der französischen Philosophen, vom Geist der Aufklärung, von der Fähigkeit derartiger Werke, Menschen mitzureißen, Augen zu öffnen und Horizonte zu erweitern – keine Spur. Vielmehr klingt der Text wie ein Erwägungsgrund der Datenschutzgrundverordnung. Er reiht sich ein in den Sprech europäisierter “Gesetzgebung”.

Doch ist das Sprachliche nur ein unwesentlicher vieler Kritikpunkte.

Als Jurist weiß Ferdinand von Schirach, dass es die grundlegende und entscheidende Idee von prinzipiellen Individualrechten, Grundrechten gar, ist, im Sinne Jellineks als Abwehrrechte gegenüber der Obrigkeit, dem Staat, der Regierung, der öffentlichen Gewalt zu dienen. Jede Idee von unveräußerlichen menschlichen Rechten hatte ihren Ursprung darin, dass sie das Recht (des Einzelnen) als Gegenpol zur Macht (des Inhabers des Gewaltmonopols) verstand. Schon der Heilige Augustinus wusste, was passiert, wenn das Recht verschwindet und nur noch die Macht verbleibt:

“Nimm das Recht weg – was ist der Staat dann noch anderes als große Räuberbande?”

Von Schirach hingegen formuliert seine neuen “Grundrechte” durchweg positivistisch – und tendenziös. Er verfasst die Rechte nicht aus einer natürlichen Abneigung gegen Obrigkeiten heraus, er hat vielmehr Vertrauen in diese – und überschreitet damit die Stoßrichtung echter Grundrechte dahingehend, dass er ihnen einen – mittelbaren oder gar unmittelbaren – privatrechtlichen Aspekt oder Vektor verleiht. Dies schmälert nicht nur den Wert des jeweiligen “Rechts” – es stellt auch die grundsätzliche Unterscheidung von Verfassungsrecht einerseits und Privatrecht andererseits infrage und verursacht im Ergebnis mehr Konflikte und mehr Probleme als es lösen könnte. Ein Beispiel:

Die Presse- und Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) ist ein Grundrecht. Das durch sie geschützte Rechtsgut ist die Gewährleistung der Fähigkeit des Menschen, sich als individuelle Persönlichkeit mit eigenem Wert- und Achtungsanspruch frei auszudrücken, Gedanken zu äußern, diese mit anderen zu teilen und zu veröffentlichen, anderen zu widersprechen und eigene Ansichten zu vertreten. Der Staat darf deshalb – individualrechtlich abgesichert – grundsätzlich keine Meinung verbieten, kein Buch zensieren, niemanden bestrafen, der nichts anderes tut als seine Gedanken und Ansichten zu teilen. Darauf hat jeder Mensch ein Recht – und kann es in letzter Instanz vor unserem Verfassungsgericht geltend machen und einklagen.

Und jetzt stellen Sie sich vor, das Grundrecht auf Meinungsfreiheit wäre ein – im Sinne von Schirachs – positivistisches Recht:

Darf ich dann vom Zeitungsverleger verlangen, mir Platz für meinen Kommentar einzuräumen, sodass ich meine Meinung – ganz im aktiven Sinne – verbreiten kann? Und nicht nur ich, sondern jeder andere auch? Kann ich fordern, man möge mir Mikrofon und Lautsprecher zur Verfügung stellen, um auf dem Marktplatz Reden zu halten? Und darf ich die Menschen zwingen, innezuhalten und mir zuzuhören? Schließlich nehme ich ja meine Meinungsfreiheit wahr!

Sehen Sie? Genauso “funktionieren” auch von Schirachs “Grundrechte”. Sie mögen zwar in ihrer Ausgestaltung rein formell lediglich den Staat verpflichten – jedoch muss der Staat, um sie zu erfüllen, zwingend die Freiheit der anderen Menschen (und damit auch wiederum deren Grundrechte) mittels Gesetz oder eines anderen Eingriffs einschränken. Sehen Sie sich an, was die Vorschläge in letzter Konsequenz – quasi als Dammbruchargumente – bedeuten könnten: “Digitale Selbstbestimmung” wird zur Enteignung Facebooks. “Umwelt- und Klimaschutz” wird zu Grund und Rechtfertigung jeder neuen Steuer, jedes neuen Produktverbots, jeder weiteren Einschränkung wirtschaftlicher Tätigkeit, jeder neuerlichen staatlichen Bemutterung, jedem weiteren Verlust an persönlicher Freiheit und freier Lebensgestaltung. “Menschenrechte im Wirtschaftsleben” führen zum Verbot von “prekärer” Auslandsproduktion, zu Arbeitsplatzverlusten, Leid und Stagnation für Abermillionen Menschen in Asien und Afrika – und zum neuerlichen Aufflammen sozialer Fragen hierzulande, wenn Mobilität, digitale Güter und sogar Kleidung plötzlich nicht mehr für jedermann erschwinglich sind.

Doch die größten Sorgen bereitet mir von Schirachs “Recht auf Wahrheit”. Jeder Mensch solle von öffentlichen Stellen “die Wahrheit” verlangen dürfen. Erinnert Sie das auch an Orwell? In “1984” heißt es: “Krieg ist Frieden” und “Lüge ist Wahrheit”. Die Umdeutung aller Worte – ja, vielleicht sogar mit Nietzsche: Die Umwertung aller Werte. Denn um definieren und damit überhaupt den Weg zur Justiziabilität eröffnen zu können, bedarf es einer Instanz, die entscheidet, was “wahr” und was “falsch” ist. Dreimal dürfen Sie raten, wer berufen sein wird, diese Entscheidung zu treffen. Der Wahrheitsbegriff ist seit jeher umstritten. Platon meinte, wir alle (außer natürlich der “Philosophenkönig”) sehen nur Schatten an der Wand einer Höhle. Aristoteles und Ayn Rand vertrauten den menschlichen Sinnen. Der rationale Naturalismus gibt zu bedenken, dass etwas so lange nicht falsch ist, bis dessen Gegenteil bewiesen wurde. Dem deutschen Zivilrecht reicht die formelle Wahrheit – also das, was die Streitparteien als wahr anerkennen -, wohingegen das Strafrecht nach der materiellen Wahrheit verlangt.

Sehen Sie, wozu ein “Grundrecht auf Wahrheit” führen würde? Belassen wir es deshalb lieber bei den Zehn Geboten und der ikonischen Aufforderung “Du sollst nicht lügen”.

Ferdinand von Schirach führt schließlich – gleichsam an letzter Stelle – eine “Grundrechtsklage” ein, nach der jeder Mensch eine “systematische Verletzung” der neuen Grundrechte “vor den Europäischen Gerichten” geltend machen könne. Unabhängig davon, dass völlig unklar bleibt, was unter einer systematischen Verletzung eigentlich zu verstehen ist und welches der “europäischen Gerichte” für ein derartiges Verfahren zuständig sein soll, vollzieht von Schirach hier den Sprung von der Individualklage zur – dem deutschen Recht völlig fremden – Popularklage.

Nach Art. 93 GG, bzw. Art. 19 Abs. 4 GG kann bisher das Bundesverfassungsgericht anrufen, wer geltend macht, durch einen Akt der öffentlichen Gewalt “in einem seiner Rechte” verletzt zu sein. Die Betonung liegt hier auf dem Wörtchen “seiner”. Klagebefugt ist daher nur, wer nachvollziehbar behauptet, dass er von einer staatlichen Maßnahme “selbst, unmittelbar und gegenwärtig” in eigenen Rechten betroffen ist. Dieses Prinzip der Individualklage ist dem deutschen Recht wesenseigen. Nur wer in seinen individuellen subjektiven Rechten betroffen und dadurch beschwert ist, soll klagen dürfen. In anderen Worten: Keiner soll ungefragt für andere klagen. Auch das ist ein Ausdruck der Anerkennung menschlicher Würde – nämlich dem einzelnen Betroffenen die Entscheidung darüber zu belassen, ob er klagen will oder eben nicht. Ferdinand von Schirach hingegen setzt sich mit seiner “systematischen Verletzungsklage” auch über dieses Grundprinzip hinweg.

Fazit

“Jeder Mensch” ist ein Werk sui generis und deshalb – je nach eigenem Standpunkt – entweder eine, wie von Schirach selbst schreibt – “naive Utopie” oder aber – wie ich finde – gefährliche Dystopie. Ich jedenfalls bin – in diesem Sinne – nicht “jeder Mensch”. Ich möchte diese “neuen Rechte” nicht. Ich möchte keine Europäische Union, die die Macht hat, sie zu “garantieren”.

Leben, Freiheit und das Streben nach Glück – zusammengefasst in der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes. Das sind meine Grundrechte.

Ein Blick ins Buch


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